5.
Du hast diesen Mann geküsst«, warf ihr Hannah ausgelassen vor. »Sarah Drake, du bist ein Flittchen. Du hast einen wildfremden Mann geküsst.«
Sarah gab sich so gelassen, wie es nur irgend möglich war, wenn man unter Beschuss stand. »Deine Phantasie muss mit dir durchgegangen sein, als du gebannt in dieses Fernrohr gestarrt hast. Ich weiß zwar nicht, was sie dir vorgegaukelt hat, aber das kannst du schon mal ganz bestimmt nicht gesehen haben. Du solltest dich dafür schämen, dass du mir so unverfroren nachspionierst. Und dann auch noch der Einsatz von ...« Sie ließ den Satz abreißen, um mit ihren Fingern Zeichen in die Luft zu malen, und dabei funkelte sie ihre drei Schwestern böse an. »Das Öffnen von Vorhängen in privaten Schlafzimmern ist total tabu. Darauf haben wir uns alle geeinigt, als wir die Regeln festgelegt haben.«
»Es gibt aber auch Ausnahmen von diesen Regeln«, hob Kate bescheiden hervor. Sie hockte auf einem hochlehnigen Holzstuhl am Tisch, hatte die Beine angezogen und lackierte sich die Fußnägel. Dabei strahlte sie über das ganze Gesicht.
»Was für Ausnahmen?«, fragte Sarah angriffslustig und stemmte die Arme in ihre Hüften.
Kate zuckte die Achseln und pustete auf ihre Zehennägel, bevor sie Sarahs Frage beantwortete. »Wenn unsere Schwester sich bei einem Mann herumtreibt, der von einer dunklen Aura umgeben ist.« Sie hob den Kopf und sah Sarah fest in die Augen. »Das ist nämlich sehr gefährlich, aber das weißt du ja selbst. Mit dem Tod ist nicht zu spaßen. Nicht einmal du kannst dir solche Spielchen erlauben, Sarah.«
Sarah drehte sich zu Hannah um und sah sie finster an. Sie wollte nicht darüber reden oder den Tod auch nur beim Namen nennen, denn sie befürchtete, wenn sie seine Existenz anerkannte, würde das seine Macht stärken. Daher blieb sie stumm.
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich habe dich nicht verpetzt. Du hast deine Tasse mit den Teeblättern auf dem Tisch stehen lassen und alle konnten es darin lesen.«
»Ihr hattet trotzdem nicht das Recht, ohne Absprache gegen die Regeln zu verstoßen.« Sarah war ziemlich sicher, dass sie diese Auseinandersetzung verloren hatte, aber sie dachte gar nicht daran, sich kampflos zu ergeben. Was den Tod anging, musste sie ihren Schwestern allerdings zustimmen. Allein schon der Gedanke, ihm ins Auge zu sehen, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Hätte sie sich nicht so sehr zu Damon hingezogen gefühlt, dann hätte sie einen Rückzieher gemacht und die Dinge ihren Lauf nehmen lassen. Aber aus unerfindlichen Gründen war ihr der Gedanke unerträglich, dass Damon litt.
Kate lächelte hämisch. »Keine Sorge, natürlich haben wir schleunigst eine Sitzung einberufen und darüber abgestimmt, ob die Situation den Einsatz unserer Kräfte erfordert oder nicht. Wir waren einstimmig der Meinung, dass die Umstände die Mittel rechtfertigen.«
»Ihr habt eine Sitzung einberufen?« Sarah sah ihre Schwestern der Reihe nach mit rechtschaffener Entrüstung an. »Ohne mich? Ohne die anderen? Ihr drei bildet keine Mehrheit. Jetzt steckt ihr ganz schön in Schwierigkeiten!«, sagte sie triumphierend.
Hannah warf ihr eine Kusshand zu und sagte liebenswürdig: »Das hätten wir doch niemals getan, Sarah. Wir haben auf der Stelle mit den anderen Kontakt aufgenommen. Es war alles ganz legitim. Wir haben ihnen berichtet, dass sich das Tor aus eigenem Antrieb für ihn geöffnet hat. Und wie die Hunde ihn begrüßt haben. Von Elle sollen wir dich umarmen und küssen und sie lässt dir ausrichten, du fehlst ihr. Joley wäre am liebsten auf der Stelle nach Hause gekommen, damit sie diesen Spaß nicht verpasst, aber ihr sind die Hände gebunden.« Hannah zog die Stirn in Falten. »Ich hoffe, das war nicht wortwörtlich gemeint, aber ich habe nicht daran gedacht nachzufragen. Bei Joley kann man das ja nie so genau wissen. Und Libby arbeitet in Guatemala oder in irgendeinem anderen Land ohne Badezimmer, das sie gerade erst entdeckt hat, und heilt, wie üblich, kranke Kinder. Wahrscheinlich gibt es dort Blutegel.«
»Ich dachte, sie sei in Afrika, um diese widerlichen Krabbeltiere zu erforschen, die so viele Menschen getötet haben, als sie die Ernte einbringen wollten«, sagte Kate. »Sie wollte mir Forschungsergebnisse für mein nächstes Buch zu schicken.«
»Wo auch immer Libby gerade sein mag - sie war vollkommen unserer Meinung und fand, wir müssten uns unbedingt vergewissern, dass Sarah nicht in Gefahr ist«, sagte Hannah mit Unschuldsmiene. »Und mehr haben wir nicht getan, Sarah. Alle waren wir uns darüber einig, dass wir sofort in dieses Schlafzimmer blicken müssen, um deine Sicherheit zu gewährleisten.«
Kate und Abbey brachen wieder in Gelächter aus. »Ein bisschen besorgt war ich schon, als er vor lauter Überschwang aus dem Bett gefallen und auf dem Fußboden gelandet ist«, sagte Abbey. »Aber da du eindeutig nicht in einer lebensbedrohenden Lage warst, haben wir euch beide gleich wieder euch selbst überlassen.«
»Und wie scharf du rangegangen bist«, fügte Kate hinzu.
»Also wirklich, Sarah, etwas weniger Begeisterung von deiner Seite hätte deiner Theorie über die Männer, die Jagd auf ihn machen, viel mehr Glaubwürdigkeit verliehen.« Die drei Schwestern nickten einander zu, als seien die theoretischen Grundlagen von allergrößter Bedeutung.
Sarah hatte ihre Arme immer noch in die Hüften gestemmt und rang mühsam darum, nicht laut loszulachen. Jetzt wippte sie mit dem Fuß und sah in die keineswegs reumütigen Gesichter ihrer Schwestern. »Ihr wusstet ganz genau, dass ich nicht in Gefahr geschwebt habe, ihr miesen kleinen Spannerinnen! Ihr solltet euch alle miteinander schämen. Begreift endlich, dass ich letzte Nacht gearbeitet habe.«
Damit löste sie die nächste Lachsalve aus und Kate wäre fast vom Stuhl gefallen. »Das nennst du Arbeit?«, prustete sie.
»Beschäftigt warst du allerdings. Auf irgendetwas hast du bestimmt hingearbeitet, Sarah«, pflichtete Hannah ihr bei.
»Bei der Arbeit ist sie eben nicht zu bremsen«, fügte Abbey hinzu.
Sarahs Mundwinkel zuckten, denn es kostete sie große Mühe, keine Miene zu verziehen. »Ich bin im Sicherheitsdienst tätig, ihr abscheuliches Pack. Ich bin ihm als Leibwächterin zugeteilt worden.«
Diesmal fiel Kate vor Lachen vom Stuhl. Hannah ließ sich vornüber auf den Tisch sacken und wirkte selbst in dieser Pose noch elegant und grazil. »Über seinen Leib hast du jedenfalls bestens gewacht, Sarah«, prustete Abbey, die sich vor Lachen kaum noch halten konnte.
»Aus nächster Nähe«, warf Kate ein.
»Und seine Lippen hast du in sicheren Gewahrsam genommen«, pflichtete Hannah ihren Schwestern bei. »Sarah, meine Süße, du machst deine Arbeit wirklich ganz toll.«
Sarah blieb keine andere Zuflucht mehr, nur noch der Rückgriff auf würdevolles Auftreten. Sie hatten sich so sehr in ihre Albernheit hineingesteigert, dass sie nicht mehr auf ihre große Schwester hörten, die Stimme uneingeschränkter Autorität. Sarah richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und versuchte sich an einer hochmütigen Miene, so weit ihr das überhaupt möglich war, während die drei sich vor Lachen bogen. »Von mir aus könnt ihr euch kaputtlachen, aber ich kann euch allen dreien nur raten, die alte Prophezeiung noch einmal gründlich zu lesen. Damit meine ich den gesamten Text und nicht nur die ersten Zeilen.«
Das Lächeln schwand von Hannahs Gesicht. »Sarah wirkt ungeheuer selbstgefällig. Wo steckt dieses alte Buch überhaupt?«
Abbey richtete sich kerzengerade auf. »Sarah Drake, du hast es doch nicht etwa gewagt, uns zu verhexen?«
»Ich verhexe niemanden«, sagte Sarah. »Dafür ist Hannah zuständig. Damon kommt demnächst hierher. Ich wollte, dass er euch kennenlernt.« Plötzlich wirkte sie schutzbedürftig. »Ich mag ihn wirklich. Wir haben die ganze Nacht über Gott und die Welt geredet. Ihr kennt doch alle dieses unbehagliche Schweigen, das sich bei Fremden einstellt, die uns beim besten Willen nicht verstehen können? Zwischen uns beiden ist es kein einziges Mal dazu gekommen. Er ist restlos erschöpft, weil er das Mal des Todes mit sich herumträgt. Er weiß natürlich nicht, dass es sich so verhält, und wenn er es wüsste, hätte er mich augenblicklich fortgeschickt.«
»O Sarah.« In Hannahs Stimme schwang tiefes Mitgefühl mit.
"Ich muss eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen. Es wäre ihm unerträglich, sich für einen weiteren Toten verantwortlich zu fühlen. Sie haben seinen Freund getötet, aber ihm ist es gelungen, sich zu retten.« Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sah ihre Schwestern mit einem verzweifelten Blick an. »Mir hat alles an ihm gefallen. Es gab kein einziges Thema, das wir umgangen haben. Und wir konnten über alles miteinander lachen.« Sie hob ihren Blick und sah ihre Schwestern an. »Ich mag ihn wirklich sehr.«
»Dann werden wir ihn auch mögen«, beteuerte ihr Kate. »Und gemeinsam werden wir eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen.« Sie öffnete die Kühlschranktür, schaute hinein und zog Schubladen heraus. »Hast du frisches Gemüse besorgt?«
»Selbstverständlich. Und jede Menge Obst. Übrigens wollte ich dich zu deiner neuesten Veröffentlichung beglückwünschen. Ich habe dein Buch von der ersten bis zur letzten Seite verschlungen und fand es wunderbar. Es ist einfach phantastisch, Katie, wie all deine Geschichten.« Sarahs Lob war aufrichtig. »Und ich danke dir, Kate.«
Abbey wandte sich Kate zu. »Weißt du, was meine liebsten Kindheitserinnerungen sind? Als wir noch klein waren, haben wir oft auf dem Balkon gelegen und zu den Sternen aufgeblickt, während du uns deine Geschichten erzählt hast. Du hast es verdient, auf all diesen Bestsellerlisten zu stehen.«
Kate gab ihrer Schwester einen Kuss. »Und ihr seid natürlich überhaupt nicht voreingenommen.«
»Selbst wenn wir es wären«, sagte Hannah, »bist du trotz allem die beste Geschichtenerzählerin, die jemals geboren wurde, und du hast jeden deiner Preise und jede deiner Platzierungen auf den Listen verdient.«
Kate errötete. Sie wurde fast so rot wie die Glanzlichter in ihrem kastanienbraunen Haar, aber sie schien sehr erfreut zu sein. »Wie kommt es eigentlich, dass sich jetzt alles um mich dreht? Sarah ist doch diejenige, die letzte Nacht mit einem wildfremden Mann zusammen war.«
»Ich musste die Nacht mit ihm verbringen«, beharrte Sarah. »Sein Haus ist vollkommen ungesichert. Und ich habe Jonas Harrington gebeten, heute Morgen bei uns reinzuschauen, damit ich ihm Damon vorstellen kann.«
Alle drei Frauen stöhnten einstimmig. »Wie konntest du bloß diesen Neandertaler in unser Haus einladen, Sarah?«, fragte Hannah erbost.
»Er ist unser Sheriff«, hob Sarah hervor. »Jetzt hört schon auf, das ist doch alles lange her - damals waren wir noch Kinder.«
»Er war schon gemein zu mir, als wir noch kleine Kinder waren, und heute ist er es immer noch«, sagte Hannah. Aus dem vollen Kaffeebecher, der vor ihr auf dem Tisch stand, stieg Dampf auf. Hannah senkte den Blick und sah, dass die Flüssigkeit zu kochen begann. Hastig blies sie in ihren Kaffee.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Na schön!«, explodierte Hannah. »Ich gebe ja zu, dass ich nur an ihn zu denken brauche und immer noch in Wut gerate. Und wenn er mich das nächste Mal Babypüppchen oder Barbie-Puppe nennt, verwandele ich ihn in einen dicken, fetten Kröterich. Das ist er ohnehin schon, also kann es nicht schaden, wenn er auch wie einer aussieht.«
»Du kannst den Sheriff nicht in eine Kröte verwandeln, Hannah. Das verstößt gegen die Regeln«, rief ihr Abbey ins Gedächtnis zurück. »Häng ihm meinetwegen eine Darmverschlingung oder einen nervösen Tick an.«
»Damit ist es noch lange nicht getan«, pflichtete Kate ihrer jüngeren Schwester bei. »Man braucht Phantasie, um es diesem Mann heimzuzahlen. Das erfordert etwas viel Subtileres - zum Beispiel, dass er jedes Mal, wenn er eine Frau belügt, um sie ins Bett zu kriegen, die Wahrheit herausplärrt oder den Frauen von sich aus sagt, was für ein mieser Hund er ist.«
»Ich werde ihm etwas viel Schlimmeres antun«, drohte Hannah. »Ich werde dafür sorgen, dass er im Bett kläglich versagt! Mister Macho Man, der böse Bube, dem in der Schule nichts Besseres eingefallen ist als sich über mich lustig zu machen. Er hält sich ja für einen solchen Frauenheld!«
»Hannah.« Sarah hörte den Schmerz aus der Stimme ihrer Schwester heraus und wandte sich mit einem sanften Tonfall an sie. »Du warst schon damals so unglaublich schön und klug, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Kein Mensch hätte sich jemals vorstellen können, wie sehr dir deine Schüchternheit zusetzt. Du hast sie immer gut verborgen. Niemand wusste, dass du dich jeden Tag übergeben hast, bevor wir zur Schule gegangen sind. Oder dass wir alle zusammenarbeiten mussten, um dir mit vereinten Kräften zu helfen, weil du es sonst gar nicht geschafft hättest, aus dem Haus zu gehen und dich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Niemand kann wissen, dass du immer noch Probleme damit hast. Du hast diese Ängste in den Griff bekommen, indem du genau die Dinge getan hast, vor denen dir am meisten graut, und du hast es noch jedes Mal geschafft. Außenstehende sehen nur deine Schönheit, deine Intelligenz und deinen enormen Erfolg. Sie sehen nicht, was du sorgsam vor ihnen verbirgst.«
»Jemand kommt den Pfad hinauf«, sagte Kate, ohne ihren Blick von Hannah abzuwenden. Sie hielt ihrer Schwester eine Hand hin. »Wir sind alle sehr stolz auf dich, Hannah. Wen interessiert schon Jonas Harringtons Meinung?«
»Es ist nicht Harrington, aber der treibt sich auch schon in der Nähe herum«, sagte Abbey. »Ich glaube, es ist Sarahs ungeladener Gast, der das Tor überlistet hat. Ihr wisst schon, der, mit dem sie die letzte Nacht verbracht hat. Das fasse ich übrigens immer noch nicht. Elle sagt, sowie du Gelegenheit findest, Kontakt zu ihr aufzunehmen, will sie alles bis in jede intimste Einzelheit wissen.«
»Es gibt keine intimen Einzelheiten«, wandte Sarah ärgerlich ein. »Ich werde eine Alarmanlage bei ihm einbauen. Kate, lass diese Kindsköpfe bloß nicht noch mehr von deinen Büchern lesen, sonst geht ihre Einbildungskraft noch vollständig mit ihnen durch.«
»Wir haben uns nicht nur eingebildet, dass er dich geküsst hat«, hob Hannah schadenfroh hervor. »Wir haben euch gesehen!«
»Und du hast ihn glühend zurückgeküsst«, fügte Abbey hinzu.
»Also, das war nun wirklich nicht ganz allein meine Schuld«, verteidigte sich Sarah. »Er kann einfach grandios küssen. Was hätte ich denn anderes tun können als den Mann auch zu küssen?«
Die Schwestern sahen einander mit feierlichem Ernst an und brachen dann gleichzeitig erneut in Gelächter aus. Der Hund, der sich in einer Ecke zusammengerollt hatte, hob seinen Kopf und winselte leise, um die Aufmerksamkeit der Schwestern auf sich zu ziehen.
»Er ist da, Sarah, und das Tor muss sich ein zweites Mal für ihn geöffnet haben«, sagte Kate fasziniert. »Ich muss mich wirklich ausführlich mit dem Buch befassen, in dem die Geschichte unserer Familie festgehalten ist. Ich will ganz genau wissen, was in der Prophezeiung steht. Es ist doch ziemlich seltsam, dass etwas, was vor Hunderten von Jahren aufgeschrieben wurde, sogar in diesen modernen Zeiten noch Gültigkeit für uns besitzt.«
»Kate, meine Süße«, sagte Abbey, »jede Epoche hält sich für progressiv und modern, aber in Wirklichkeit wird man uns eines Tages für rückständig halten.«
»Er steht schon auf der Veranda«, kündigte Kate an und eilte zur Haustür.
Ihre Schwestern folgten. Sarah bekam Herzrasen. Sie hätte niemals damit gerechnet, dass sie sich zu einem Mann wie Damon hingezogen fühlen könnte. Er entsprach keinesfalls ihrer Vorstellung von dem Typ Mann, der sie reizen könnte, und doch dachte sie unablässig an ihn. Sie erinnerte sich an sein Lächeln und auch an die zwei kleinen Grübchen, die sich dann dicht neben seinen Mundwinkeln bildeten. Faszinierend, diese verführerischen Grübchen. Er hatte ein Lächeln von der Sorte, die zu langen, berauschenden Küssen einlud, zu einem glühenden Verschmelzen miteinander ...
»Sarah!«, fauchte Hannah. »Die Zimmertemperatur ist gerade sprunghaft in die Höhe geschossen. Du weißt doch, dass du an solche Dinge nicht einmal denken darfst, wenn wir in deiner Nähe sind. Ts, ts! Ein Tag mit diesem Mann und schon ist es um deine Moral geschehen.«
Sarah spielte mit dem Gedanken, Einwände zu erheben, aber es gab nicht gerade viel, was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen konnte. Wenn Damon nicht ein vollendeter Gentleman gewesen wäre und es dabei belassen hätte, sie zu küssen, hätte es passieren können, dass sie sich geliebt hätten. Also gut, sie gab es ja zu – dann wäre sie bestimmt mit ihm ins Bett gegangen. Und genau das hätte sie auch tun sollen. Stattdessen hatte sie die ganze Nacht wach gelegen, aufgebracht, reizbar und von ihrem Verlangen geplagt. Warum musste dieser verflixte Mann auch so ritterlich sein? Sie lächelte und ließ mit einem Gefühl von Ehrfurcht ihre Finger über ihre Lippen gleiten. Fast die ganze Nacht lang hatte er sie geküsst. Und wie wunderbar diese Küsse gewesen waren, wie köstlich und sündhaft und ...
»Sarah!« Wie eine Rüge stießen ihre drei Schwestern gleichzeitig ihren Namen hervor.
Sarah strahlte sie ohne jede Spur von Reue an. »Ich kann nichts dafür, diese Wirkung hat er nun mal auf mich.«
»Du solltest wenigstens versuchen, dich ihm nicht an den Hals zu werfen«, bemühte sich Abbey, ihre älteste Schwester zur Vernunft zu bringen. »Das schickt sich so gar nicht für eine Drake. Wenn es um Männer geht, gilt es um jeden Preis Würde zu bewahren.«
Hannah sah aus dem Fenster. Sie rümpfte die Nase. »Kate, wenn du Damon die Tür aufmachst, dann lass doch bitte die Hunde raus, damit sie herumtollen können. Sie werden es bitter nötig haben, die armen Geschöpfe, nachdem sie die ganze Nacht hier eingesperrt waren.«
Kate nickte und scheuchte gehorsam die Hunde aus dem Haus, als sie Damon begrüßt hatte. »Wie schön, Sie zu sehen, Mr. Wilder. Sarah hat uns schon so viel von Ihnen erzählt.«
Die Hunde flitzten an Damon vorbei. Er stützte sich schwer auf seinen Stock und beobachtete, wie sich die großen Tiere auf den Sheriff stürzen wollten, der den Weg hinaufkam. Als der Mann das Tor gerade erreicht hatte, schwang es mit einem lauten Knall zu. Die Hunde warfen sich mit Wucht gegen das schmiedeeiserne Gitter. Sie knurrten, entblößten ihre Lefzen und scharrten rasend im Boden, um an ihre Beute zu kommen.
»Ich finde das gar nicht komisch, Hannah!«, schrie Jonas Harrington. »Deine Schwester hat mich eingeladen. Sie hat mich gebeten herzukommen, und ich bin nur hier, um ihr einen Gefallen zu tun. Sei nicht so kindisch und ruf die Hunde zurück.«
Hannah lächelte Damon liebenswürdig an und reichte ihm ihre Hand. »Diesen Kröterich beachten Sie am besten gar nicht erst, Mr. Wilder, er kommt ab und zu hier vorbei, fuchtelt mit seiner Spielzeugpistole herum und glaubt, damit könnte er die Eingeborenen beeindrucken.« Sie gähnte und hielt sich geziert eine Hand vor den Mund. »Es ist zwar sterbenslangweilig und kindisch, aber wir müssen ihn bei Laune halten.«
Sarah stieß einen scharfen Pfiff aus und die Hunde stellten augenblicklich ihr Knurren ein, wichen vom Zaun zurück und schlugen den Weg zum Haus ein. Als die Tiere an Sarahs Seite zurückgekehrt waren, schwang das Tor einladend auf und der Sheriff kam auf das Grundstück stolziert. Sein Gesicht war eine grimmige Maske und sein vernichtender Blick war auf Hannah gerichtet.
»Was passiert, wenn Sie ihn nicht bei Laune halten?«, fragte Damon.
»Dann spielt er sich fürchterlich auf und schikaniert uns mit Strafzetteln wegen Geschwindigkeitsübertretungen«, sagte Hannah. Sie hatte ihr Kinn in die Luft gereckt und ließ sich nicht einschüchtern.
»Du bist nun mal zu schnell gefahren, Hannah. Bildest du dir etwa ein, bloß weil du eine Schönheit bist, würde ich dich ungestraft davonkommen lassen?« Der Sheriff drückte Damon die Hand. »Jonas Harrington, der einzige zurechnungsfähige Mensch auf Erden, wenn es darum geht, den wahren Charakter des Babypüppchens zu beurteilen.«
Hannah lächelte ihn strahlend an. Ihre Schwestern rückten näher zu ihr. Damon erschien es, als wollten sie sie beschützen. »Weshalb solltest du mich nicht ungestraft davonkommen lassen, Sheriff? Die anderen Bullen lassen mir doch auch immer alles durchgehen, jeder Einzelne von ihnen.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn stehen.
Kate und Abbey stießen gleichzeitig einen leisen Seufzer aus.
»Du hast meiner Schwester einen Strafzettel gegeben?«, fragte Sarah entrüstet. »Jonas, du bist wirklich eine widerliche Kröte. Warum kannst du sie nicht einfach in Ruhe lassen? Du bist so nachtragend wie ein Schuljunge. Hör endlich auf mit diesem Quatsch.«
»Sie war doch diejenige, die wie ein Teenager auf die Tube gedrückt hat«, hob Jonas hervor. »Hattest du auch noch einen echten Grund dafür, mich hierher zu bestellen, abgesehen davon, dass du mich deinen Hunden zum Fraß vorwerfen wollest?«
Höhnisches Gelächter drang aus dem Haus. »Bilde dir bloß nichts darauf ein, Harrington. Niemand will dich im Haus haben. Du bist hier kein gern gesehener Gast.«
Als Jonas Harrington das Haus betrat, geriet der Efeu, der von der Decke hing, bedenklich in Bewegung und eine dicke, zähe Ranke schlug gegen seinen Hinterkopf. Jonas wirbelte herum. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und nie wie zum Kampf erhoben. Er stieß die Pflanze von sich und murmelte einen Schwall von gehässigen Flüchen, als er ins Wohnzimmer stürmte.
Damon, der hinter ihm war, blieb sofort stehen und sah sich argwöhnisch im Zimmer um, bevor sein Blick wieder auf den Efeu fiel. »Kommt es öfter vor, dass eure Pflanzen eure Besucher angreifen?«, fragte er mit ernsthaftem Interesse, als er die Ranke mit seinem Gehstock aus dem Weg schob. Er bahnte sich behutsam einen Weg durch zahllose Grünpflanzen.
»Nur Gäste, die gemein zu meinen Schwestern sind«, erwiderte Sarah.
Ohne jede Vorwarnung schoss Damons Hand plötzlich vor und er verblüffte nicht nur alle anderen, sondern auch Sarah und sich selbst damit, dass er Sarahs Genick packte und sie unsanft an sich zerrte. Sein Mund umschloss gierig ihre Lippen. Sarah verschmolz mit ihm. Sie verbanden sich miteinander und Sarah kam sich vor, als bestünde sie aus flüssigem Feuer. Lodernd ging sie in Flammen auf. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals. Sein Stock fiel auf den Fußboden und die Welt wich weit von ihnen zurück, bis nur noch Damon und Sarah und ein rasendes Verlangen zurückblieben.
»Sarah!« Ihr Name stand flirrend in der Luft und ließ sie zurückschrecken. Sie standen in einer engen Umklammerung da und jeder von beiden ertrank in den Augen des anderen. Sie waren zutiefst schockiert.
Sarah blinzelte und versuchte, wieder klar zu sehen. Dann schaute sie sich um und errötete, als sie sah, dass Jonas Harrington mit weit aufgesperrtem Mund dastand. »Mach den Mund zu, Jonas«, befahl sie ihm, und in ihrem Tonfall drückte sich deutlich aus, er solle es bloß nicht wagen, eine dumme Bemerkung zu machen. Sie kannte Jonas von klein auf. Natürlich konnte er sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen. Sie wartete und wand sich innerlich.
»Heiliger Strohsack.« Jonas hielt Damon eine Hand hin. »Du bist ein Gott. Es ist gefährlich, eine Drake zu küssen, gewissermaßen so, als riskierte man es, eine Natter zu küssen. Und du stürzt dich einfach drauf und traust dich.« Er schüttelte Damon mit maßloser Begeisterung die Hand.
»Ha, ha.« Sarah sah den Sheriff finster an. »Fang gar nicht erst an. Und wage es bloß nicht, Gerüchte in Umlauf zu setzen, Jonas. Ich bin ohnehin schon sauer auf dich, weil du Hannah einen Strafzettel verpasst hast.«
Das strahlende Lächeln auf dem Gesicht des Sheriffs verblasste. »Ich bin nicht der Meinung, dass eine Frau nur deshalb, weil sie so umwerfend aussieht, dass es einem die Schuhe auszieht, anders behandelt werden sollte als andere Frauen. Ihr wird das Leben viel zu leicht gemacht, Sarah. Ihr alle behandelt sie wie ein kleines Babypüppchen.«
»Du kennst Hannah überhaupt nicht, Jonas, und du verdienst es auch nicht, sie kennenzulernen. Sie würde niemals erwarten, dass du ihr wegen ihres Aussehens etwas durchgehen lässt, du Trottel.« Sarah hätte sich die Haare raufen können. »Vergiss es, ich habe es satt, dir Dinge erklären zu müssen. Ich gebe auf. Wenn du immer noch nicht weißt, was Freundschaft bedeutet, dann wirst du es nie kapieren. Und jetzt lasst uns sehen, dass wir das Geschäftliche hinter uns bringen. Damon und ich haben heute noch viel zu tun.« Sie deutete auf einen Stuhl.
Harrington hielt seinen Blick auf die Treppe gerichtet.
»Setz dich!«, fuhr Sarah ihn an. »Es geht um ernste Angelegenheiten. Mord. Davon verstehst du doch etwas, Jonas.«